Montag, 10. April 2017

CLEARING UP


1965


Wir lösen zur Zeit unser Elternhaus auf.

In mein Leben fliesst eine bittersüsse Note und das Strandgut von über 100 Jahren Familiengeschichte, das beim Räumen der Schränke aufgedeckt wird.

Ramsch und Relikte, Rettenswertes und Redundantes wie aus einem Füllhorn überschwemmen mich. Von der Schuldverschreibung meines Grossvaters, den ich nie kannte, bis zum xt-gleichen Foto von irgendwelchen Kegeltouren meines Vaters aus den 70ern.

Entscheidungen müssen getroffen werden, was von alle dem Gesammelten, Vergammelten und ehemals für Wert befundenen nun behalten wird, was Teil der Geschichte bleibt und was davon auf die Müllkippe oder in den Reisswolf gehört.



Das Elternhaus werde ich nicht wieder sehen, denke ich.
Trinke noch ein Bier auf dem Friedhof, am Grab des Vaters, kippe die Hälfte auf die Erde über der Urne. 
Prost, alter Mann, das ist wohl unser letztes gemeinsames Bier“.

Obwohl ich vor über 40 Jahren fort ging von dort, fällt mir der endgültige Abschied überraschend schwer.
Ein paar Photos nehme ich mit, die meine Mutter nicht möchte, rette ein paar Bücher vor dem Container, eine alte kaputte Kamera, an die ich mich aus Kindertagen erinnere, eine Laubsägearbeit meines Vaters.

Fahre nach drei Tagen mit etwas aufgeschürfter Seele wieder heim und arrangiere das Mitgenommene in meiner eigenen Wohnung, die dereinst ebenso geräumt werden wird, wie das Elternhaus.

Die Dinge werden magisch durch die Erinnerungen, mit denen sie verbunden sind. 
Die Erinnerungen nähren sich magisch aus den Dingen, mit denen sie verbunden sind.
So haben Dinge und Erinnerungen eine Macht in uns.

Während ich so sitze und denke und arrangiere, beginne ich in meinen eigenen Erinnerungen zu wühlen, krame Dies und Das hervor. Dinge die mit meiner Vergangenheit verbunden sind, nachdem ich das Elternhaus verliess. Dinge von denen kaum jemand weiss und die vielleicht nie jemand erfahren wird.

So fällt mir eine alte Zeitung in die Hände, eine „Frankfurter Rundschau“ aus 2008.
Nie habe ich jemandem erzählt, dass ich dort einen Artikel veröffentlichte. Einen Artikel, der nicht treffender die Verhältnisse in ebendiesem Elternhaus beschreiben könnte, einige Jahre, bevor ich von dort fort ging 
… vor über 40 Jahren:


Samstag 5. April 2008


Revolution

Ich erinnere mich an Samstagabende, im weissen Dralonhemd, frisch gebadet, mit meinen Eltern vor dem Fernseher. Es lief die Tagesschau mit Bildern, die uns bis heute überliefert sind - schwarzweiss, unscharf, hektisch -, junge Menschen in Parkas mit langen Haaren, mit ausladenden Bewegungen, mit mir - ich war 1968 zehn Jahre alt - unverständlichen Stellungnahmen, gespickt mit den typischen Allgemeinplätzen der damaligen Zeit.

1968

So natürlich, wie die Welt schwarzweiss daher kam, so natürlich erschienen mir die Bilder - natürlich und fremd zugleich - wie auch die verächtlichen Kommentare meines Vaters und die der interviewten Passanten und Politiker.


Was mir tief in Erinnerung blieb, ist diese Verachtung - fast schon Hass - auf die Studenten, die Veränderungsversuche and er Gesellschaft, die meine Elterngeneration „mit eigenen Händen aus dem Nichts aufgebaut hatte“.

Ich war zehn und vielleicht unpolitisch, aber ich war nicht blind und nicht taub. Mein Herz gehörte den schwarzweissen Revoluzzern, das war ausgemachte Sache für mich. Auch ich wollte Veränderung, meine Revolution kam genauso unausweichlich wie die der „Schwarzweissen“.

Sie kündigte sich mit Pickeln und langen Kommunikationspausen im Wechsel  mit Gebrüll zwischen meinen Eltern und mir an. Ich glaubte den gleichen Hass, die gleiche Verachtung meiner Eltern gegen mich zu spüren, die ich ihn gegen die Studenten wahrgenommen hatte; sogar die Sprüche meiner Eltern waren ähnlich wie die, während die Tagesschau lief.

Drei Jahre später wurde ich Redakteur der Schulzeitung „Kläranlage“. 
Wir waren links, kommunistisch, belächelt, ernsthaft, aufgebracht, gewissenhaft und schön rot in unseren grünen Parkas. 
Wie die schwarzweissen Revoluzzer.




Luzern, Montag 10. April 2017

2 Kommentare:

  1. Antworten
    1. Danke Ka.ze
      Schön, liest Du meinen Blog, dann bist Du bestens informiert und kannst sehen wie ich in 2018 näher komme.
      Herzlichst Foftain

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